Am 2. September 2015 wurde an der Fassade des Stadtteilzentrums Weißensee ein Bronzerelief mit dem Kopf des alten Mannes angebracht und feierlich eine Informationstafel enthüllt. Der kleine Park zwischen Pistoriusstraße und Kreuzpfuhl heißt seitdem „Jürgen-Kuczynski-Park“. Wer ist der Mann, dem soviel Ehrung zuteil wird und warum gerade hier? Letzteres ist leicht zu beantworten. Er hat ganz in der Nähe gewohnt, in der Parkstraße 94. Es ist kein besonderes Haus, in dem er mit seiner Frau Marguerite Kuczyinki – auch sie war Wirtschaftswissenschaftlerin – drei Kindern und einer 70.000 Bücher umfassenden Bibliothek bis zu seinem Tod 1997 gelebt hat.
Jürgen Kuczynski, der Wissenschaftler
Ein Mensch, der mit so vielen Büchern lebt und vermutlich einen Großteil auch gelesen hat, muss ein kluger Mensch sein. Das war Jürgen Kuczynski, nämlich ein national und international hochgeachteter Wissenschaftler der DDR. 100 Bücher hat er geschrieben und etwa 4000 weitere Broschüren, Artikel und Aufsätze veröffentlicht. Er hatte ein universelles Wissen und vielerlei Interessensgebiete, die er bearbeitet hat. Eines seiner wichtigsten Themen als Forscher und Autor war die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter, ob im frühkapitalistischen England oder in späteren Jahrhunderten in Amerika und Europa oder die Lage der arbeitenden Kinder in den Fabriken. Über vier Jahrzehnte hat er sich damit beschäftigt, so dass am Ende in 40 Bänden sein Hauptwerk mit dem Titel „Die Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus“ entstand.
Nicht nur hochwissenschaftlich
Kuczynski hat aber nicht nur hochwissenschaftliche Bücher geschrieben, sondern auch solche, die Menschen lesen und verstehen können, die keine wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesungen gehört haben. „Vom Knüppel zur automatischen Fabrik“ ist eines davon. Dieses Buch ist als Jugendbuch erschienen, aber auch für Erwachsene durchaus lesenswert. Hier erklärt er, wie und warum die Entwicklung der Werkzeuge – der Produktivkräfte, wie Kuczynski schreibt – das Zusammenleben der Menschen, also die gesellschaftlichen Verhältnisse, immer wieder und bis heute verändert. Über Jahrtausende hinweg lernten die Menschen der Urgesellschaft aus Holz und Steinen Werkzeuge zur Bodenbearbeitung zu herzustellen, zunächst um das nackte Überleben zu sichern. Sie lernten die Natur immer besser zu beherrschen, indem sie zum Beispiel das Feuer zähmten und für sich nutzten. Dadurch konnten sie mehr produzieren, als sie selber brauchten, trieben Handel, bauten Dörfer und Siedlungen. All das hatte zur Folge, dass sie gesünder, älter und zahlreicher wurden. Irgendwann waren sie so viele, dass sie Kriege um fruchtbare Gebiete führten, Gefangene machten, die sie für sich arbeiten ließen und so Klassengesellschaften entstanden. Auch die wissenschaftlichen Entdeckungen seien kein Zufall. Die Astronomie zum Beispiel hat ihren Ursprung in Ägypten. Die Menschen am Nil mussten damit leben, dass der mächtige Fluss immer wieder über die Ufer trat. Wenn zur falschen Zeit gesät wurde, zerstörte der Nilschlamm die Ernte. Aus den Bedürfnissen der Landwirtschaft wurde es überlebensnotwendig, den Lauf der Sonne und des Mondes zu erforschen und einen Kalender zu entwickeln, um zur rechten Zeit zu säen.
Kuczynski beschreibt, wie je nach dem Stand der `Produktivkräfte´ alte Gesellschaften einer neueren Entwicklung weichen mussten, die Sklavenhaltegesellschaft dem Ständestaat des Mittelalters, diese der Herrschaft des Feudaladels und wie schließlich mit den Erfindungen der Dampfmaschine, der Elektrizität usw. die kapitalistische Produktionsweise entstand. Auch der Kapitalismus – da war er sich sicher – werde letztendlich durch eine sozialistische Gesellschaft abgelöst.
Jürgen Kuczynski, der Politiker
1945 ist er als Oberstleutnant der US-Armee nach Deutschland zurückgekehrt, das er 1936 als Widerstandskämpfer gegen die Nazidiktatur, Kommunist und Jude verlassen musste. Der gebürtige Wuppertal-Elberfeldler ließ sich nicht in Westdeutschland, sondern in der sowjetischen Besatzungszone nieder. 1946 trat er der SED bei. Er wurde Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität und schließlich Vorsitzender der „Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft“. Dieses Amt verlor er aber 1950 nach einer antisemitischen Welle in der Spätzeit Stalins. Im selben Jahr wurde er in die Volkskammer der DDR gewählt.
Er war Redenschreiber von Erich Honecker und hat ihn in außenpolitischen Fragen beraten. Gleichzeitig hat er laut Konrad Naumann vom Politbüro das „republikfeindlichste Buch“ geschrieben, das je in der DDR erschienen ist (Der Spiegel 16/1997), nämlich den „Dialog mit meinen Urenkeln“. Von höchster Stelle wurde das Manuskript sechs Jahre lang bis 1983 auf Eis gelegt, als es dann erschien, erreichte es in wenigen Jahren 10 Auflagen. Es ist ein fiktiver Dialog. Seine Urenkel waren zu dieser Zeit erst Kleinkinder oder noch nicht geboren, „Sage mal, Urgroßvater, hast Du Dir den Sozialismus so vorgestellt, wie er heute ist,“ lässt er sie fragen. „Alles, was Dir an Ärgerlichkeiten und Mängeln begegnet, hat nichts mit unserem sozialistischen Gesellschaftssystem zu tun, sondern mit Schwächen und Fehlern von Menschen, deren übergroße Mehrheit sich ehrlich bemüht, unser Land immer schöner aufzubauen“, antwortet er. Die DDR sei eine im Ganzen gute Sache mit 1000 Fehlern.
Auch auf die Frage nach der Stalinzeit antwortet er und spart nicht mit Selbstkritik. Nach 1956 sei bekannt geworden, dass Stalin, unter dessen Führung schlimmste Verbrechen gegangen wurden, das Vertrauen der Menschen missbraucht habe. Auch er selbst sei überzeugt gewesen, dass die Moskauer Prozesse in Ordnung seien, dass die Sowjetjustiz keine Fehler machen könne. Er schäme sich für diese unkritische Einschätzung sehr.
Ein Jahrhundertleben
1904, noch im Kaiserreich, wurde Jürgen Kuczyinki geboren. Während der Weimarer Republik musste er schon als Student erfahren, dass er als Jude im Wissenschaftsbetrieb kaum ein Chance hatte und forschte einige Jahre in Amerika. In den 30er Jahren war er im Widerstand gegen Hitler und hauptsächlich mit der Herstellung von antifaschistischem Propagandamaterial befasst. Nach 45 Jahren im realen Sozialismus der DDR erlebte er dessen Zusammenbruch und ist in der Marktwirtschaft angekommen, in einer Gesellschaft mit Armut, Arbeits- und Obdachlosigkeit, wovor er immer gewarnt hatte.
1996, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte er noch ein Buch: „Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel“. Hier musste er eingestehen, dass das Experiment DDR gescheitert war und billigte ihm nur einzelne sozialistische Elemente zu: ein mißglückter Staat, doch mit 1000 großen Leistungen im Kleinen.
Er klagt aber auch den Kapitalismus an: „Erschreckend diese Unfähigkeit der Menschen, den Fortschritt wirklich zum Nutzen aller zu verwenden, nicht wahr? Das ist eben das, was wir Sozialisten zum Ziel haben.“
Seine Gewissheit, dass der Sozialismus siegen würde, war von der Realität zunichte gemacht worden. Jürgen Kuczynski in einem Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Georg Fülberth: „Heute habe ich nun den Optimismus, d.h. nicht mehr die Gewissheit, sondern die ganz starke Hoffnung, dass die Menschheit in Frieden überleben und sich weiter entwickeln wird.“
Text: Annette Schorb
Quellen: Georg Fülberth: Nachdenken über Jürgen Kuczynski, Trotzfunk 02.02.201, Michael Landmann: Im Dienst des Antifaschismus, antifa 11.09.2014, Hermann Klenner: Jürgen Kuczyniski zu ehren, Die Linke 16.12.2015, Wolfgang Girnus: Jürgen Kuczynski – Bericht über ein Kolloquium zum 100. Geburtstag